Für Amartya Sen ist der Vorrang im Falle bitterer ökonomischer Not oder bei Katastrophen sehr viel genauer zu qualifizieren als dies Rawls getan hat.[92] Auch kritisierte er den idealtypischen Charakter von Rawls' Gerechtigkeitstheorie, der keine Aussagen über Ungerechtigkeiten in der realen Welt erlaube, sowie deren Fokussierung auf Institutionen, ohne Beachtung für Aspekte tatsächlichen menschlichen Verhaltens.[93] Thomas Nagel hat eingewendet, dass die Liste der von Rawls benannten Grundgüter nicht neutral sei.[94] Diese folgten einer liberalen und individualistischen Konzeption des Guten. Man kann aber nach Nagel nicht davon ausgehen, dass dies mit allen rationalen Lebensplänen für ein gesellschaftliches Zusammenleben übereinstimmt. Darüber hinaus ist die Liste für Benjamin Barber nicht kohärent. So konkurrieren beispielsweise Freiheit und Chancengleichheit, ohne dass es Regeln für Prioritäten gibt. Außerdem ist das Einkommen für Barber kein allein ausreichender Maßstab zur Bestimmung der am schlechtesten gestellten Menschen.[95] Ronald Dworkin kritisiert, dass Rawls' Theorie keinen Ausgleich für natürliche oder soziale Beeinträchtigungen schafft, wenn die Betroffenen nicht der Gruppe der am schlechtesten Gestellten zuzurechnen sind.[96] Ähnlich weist Kenneth Arrow darauf hin, dass Rawls nicht berücksichtigt, dass gleiches Einkommen nicht Gleichheit bedeutet, wenn man zum Beispiel an die individuellen Kosten von schweren Krankheiten denkt.[97] Will Kymlicka verweist darauf, dass Rawls persönlichen Entscheidungen und Anstrengungen zu wenig Raum gibt. Weiterhin vermisst Kymlicka die ausgleichende Berücksichtigung natürlicher Ungleichheiten und kritisiert, dass nach dem Konzept von Rawls Leute zur Subventionierung anderer gezwungen werden.[98]
John Rawls hält unsere Gesellschaft für ungerecht. Die Grundlage seiner Theorie der Gerechtigkeit ist deshalb die Gedankenfigur des Urzustandes unter den Bedingungen eines Schleiers des Nichtwissens. Mithilfe dieser Figur, so Rawls, schaffen wir es, zu Gerechtigkeitsprinzipien zu gelangen, die nicht durch die ungerechte Einrichtung der gegenwärtigen Grundstruktur verzerrt werden. Genau hier setzt der vorliegende Aufsatz mit einer poststrukturalistischen, von Michel Foucault ausgehenden Kritik an. Weil die von Rawls postulierte Idee von Gerechtigkeit vom existierenden Common Sense der Subjekte und der Berücksichtigung der subjektiven Intentionen ausgeht, übersieht sie die aus dieser Perspektive wichtigere Frage der Subjektivierung. Weil auch im Common Sense, also darin, wo alle sich einig sind, Ungerechtigkeit existiert, ist die so erreichte Gerechtigkeitsdefinition nicht unbedingt frei von Ungerechtigkeit. Die Lösung dieses Problems liegt nicht in einer richtigeren oder besseren Gerechtigkeitstheorie begründet, sondern im kritischen Vorbehalt gegen eine solche Theorie selbst.
Theorie Der Gerechtigkeit John Rawls.pdf
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